Die digitale Schere im Kopf Von Alvar C.H. Freude, Dragan Espenschied, 12.01. 2001, 13:39:20 |
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Reinhold Neven du Mont: Selbstzensur im Buchverlag; in: Ingeborg Drewitz, Wolfgang Eilers (Hrsg.): Mut zur Meinung, Gegen die zensierte Freiheit, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1980, Seite 182 f. |
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Reinhold Neven du Mont beschreibt, mit welchen Problemen insbesondere kleine Verlage zu kämpfen haben, wenn sie sich kritischen Themen widmen: | |||||||||||||
Reinhold Neven du Mont, a.a.O. Seite 182f |
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Ähnliches ist seit einiger Zeit vermehrt im Internet zu beobachten: Hauptstreitpunkte sind dort meist das Marken- und Urheberrecht. Zudem hat im Internet jeder die Möglichkeit, mit relativ geringen Kosten selbst sein eigener Verleger zu sein; wer privat eine Homepage erstellt hat oftmals kein Interesse an einem langwierigen Juristischen Verfahren, was von einigen Marken- und Rechteinhabern in zweifelhafter Weise ausgenutzt wird: | |||||||||||||
So drohte die deutsche Landesgruppe der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) einer Vielzahl an privaten Homepage-Betreibern in Deutschland, darunter auch Jugendlichen, in einem Brief vom 28. Juli 2000 mit rechtlichen Schritten: | |||||||||||||
aus einem Brief von Clemens Rasch, Justitiar der Deutschen Landesgruppe der IFPU e.V. an einen 15-jährigen Homepage-Betreiber. Rechtschreibfehler Original, das Schreiben liegt uns vor. |
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Um was geht es genau? Auf der betreffenden Homepage war ein Verweis auf Napster angegeben und dieser sei zu entfernen, da, so die waghalsige Begründung, wenige Tage zuvor »(...) das Distrikt Gericht in San Francisco, Kalifornien den Dienst von MP3.com (sic!) per Einstweiliger Verfügung verboten« habe. Daher sei ein Link bzw. Verweis ("Zugänglichmachung") auf Napster illegal und man habe wenige Stunden Zeit, den Verweis zu entfernen. Die Industrie will Richter spielen.
Zur gleichen Zeit wurde Napster per einstweiliger Verfügung untersagt, den Tausch von Urheberrechtlich geschützter Musik zu erlauben, was natürlich keinesfalls mit einem Verbot von Napster gleichzusetzen ist. Besonders peinlich an dieser Aktion ist aber, dass diese einstweilige Verfügung kurz darauf wieder aufgehoben wurde. |
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aus »Linkverbot des Deutschen Musikverbandes« in Internet-Intern vom 31. Juli 2000 |
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Die digitale Schere im Kopf |
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[1] Zur Link-Problematik vergleiche auch die Hintergrundinformationen der Active-Link-Demonstration sowie die Erläuterungen von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des Web: Was ist ein Link? |
Die Folge ist, dass aus Angst vor Klagen immer weniger Netzbürger ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nutzen, Links mit Distanzierungen kommentiert werden usw.[1]
Das Markenrecht, das keinesfalls auf die neuen Möglichkeiten wie einfache, weltweite Recherchemöglichkeit und globale Eindeutigkeit von Domain-Namen ausgelegt ist, sorgt ebenso häufig für Streitfälle, meist in Verbindung mit Domain-Namen. Regelmäßig werden Website-Betreiber abgemahnt oder zur Herausgabe ihrer Domains aufgerufen, weil sie (angeblich) Markenrecht verletzen. |
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[2] Die Site ist bereits offline, der Anweisung wurde Folge geleistet. |
Die 14-jährige Katharina Dücker bekam von den Anwälten von Time Warner, Inhaber der Film-Rechte zu Hary Potter, Post: sie habe ihre Harry-Potter-Fanseite vom Netz zu nehmen[2], da sie das Markenrecht Time-Warners verletze. Von der Verbreitung von urheberrechtlich geschütztem Material und Verkauf von Merchandizing-Ware ist die Rede damit outet sich der Brief als Serienbrief: Auf Katharinas Homepage befanden sich selbstgezeichnete Bilder, aber eben keinerlei Merchandizing-Ware. | ||||||||||||
Frank Patalong in Spiegel-Online: »Wo Harry Potter draufsteht, soll auch Time Warner drin sein« |
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Alle Kinder gehören Ferrero |
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[3] vgl. auch »Darf nur Ferrero das Wort 'Kinder' benutzen?« bei Naturkost.de und die Pressemitteilung »Gericht: 'Kinder' gehören Ferrero!« der GABA AG |
Ferrero Österreich versuchte Ende 2000, mit einer einstweiligen Verfügung der Agentur Mediaclan zu untersagen, die Internet-Domain kinder.at zu nutzen und verlangte deren Herausgabe. Begründung: Ferrero besitze die Rechte an der Marke »Kinder« und sei daher allein berechtigt eine solche Domain zu besitzen. Dieser Versuch wurde, aus formalen Gründen, zwar noch zurückgewiesen, aber in anderen Fällen hat Ferrero erfolgreich das Wort Kinder für sich zu monopolisieren verstanden.[3] | ||||||||||||
[4] Ausführliche Informationen sind auf der Aktions-Homepage von RTMark sowie den Texten zur etoy-Kampagne von Reinhold Grether zu finden. |
International Beachtung fand insbesondere der Streit um die Domain etoy.com der Künstlergruppe etoy: dem Spielwarenhersteller eToys.com war diese Domain ein Dorn im Auge. Potentielle Kunden vertippten sich regelmäßig bei der Eingabe der URL des Spielzeugversenders und landeten stattdessen bei etoy. Vollgepumpt mit Aktienkapital versprachen sich die Manager einen überlegenen Sieg über die Künstler und verklagten sie auf Herausgabe des Domainnamens. Dies ist einer der wenigen Fälle, bei denen letztendlich der Schuss nach hinten losging: eToys.com verlor drastisch an Börsenwert (heute kraxelt die Aktie deutlich unter Ausgabepreis herum), zahlte fast freiwillig alle Gerichtskosten, etoy behielt die Domain.[4] | ||||||||||||
[5] Vgl. auch die Hintergrundinformationen von Greenpeace zum Thema |
Ab wann solche Domain-Streitigkeiten in den Bereich der Zensur hineinreichen läßt sich deutlicher am Beispiel des Domainstreits zwischen Greenpeace und dem Ölkonzern TotalFinaElf darstellen: am 16. Januar 2001 forderte der Konzern Greanpeace auf, den Betrieb der Protest-Website www.oil-of-elf.de bis zum darauffolgenden Tag um 19 Uhr einzustellen und eine entsprechende Unterlassungserklärung (PDF) zu unterschreiben. Auch hier wird mit dem Markenrecht argumentiert und so versucht eine unliebsame Kampagne loszuwerden; die einstweilige Verfügung wurde gegen Greenpeace ausgesprochen, die Umweltschutzorganisation musste am 26. Januar die Website schliessen; Anfang März wird am Landgericht Berlin über den Fall verhandelt.[5] | ||||||||||||
[6] siehe beispielsweise auch Harald Taglinger in Telepolis: WDR sind nur drei Buchstaben, Juli 2000 sowie Frank Patalong in Spiegel -Online: Westen, tief im Osten (Januar 2001) [7] vergleiche dazu die »Hintergrundinformationen« der Active-Link-Demonstration |
Viele weitere Fälle sind fast schon alltäglich geworden[6], oftmals reicht die Androhung einer Klage, sei sie nun berechtigt oder nicht, völlig aus. Aus Angst vor einem Gerichtsverfahren entfernen die Betreiber privater Homepages beanstandete Inhalte. Glück im Unglück hat derjenige, der ohne kostenpflichtige Abmahnung davon kommt: Der Münchner Rechtsanwalt Günther Freiherr von Gravenreuth scheint es fast zum Geschäftsmodell entwickelt zu haben, Homepagebetreiber wegen Links u.a. auf die Software FTP-Explorer kostenpflichtug abzumahnen. Nichtsahnend einen Link zu setzen kann so zum teuren Spaß werden: fast 2000 Mark sind fällig.[7]
Weitere Beispiele im Abschnitt »Auch Darth Vader gehört nicht seinen Fans« in »Kontrolle über das Kopieren«. |
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Der Nazi-Sommer |
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Politische Zensur- und Regulierungs-Forderungen wurden in Deutschland vergangenen Sommer vor dem Hintergrund des Sommerloch-Themas »die Nazis sind überall und kommen aus dem Internet« besonders laut, während das Thema Pornographie und Jugendschutz im Gegensatz zu den USA nur eine untergeordnete Rolle spielt, aber von der Bertelsmann-Stiftung geschickt in ihren Empfehlungen für den Interneteinsatz an Schulen im Zuge der Internet-Hysterie aufgegriffen wurde, um letztendlich die Akzeptanz von Inhaltsfiltern zu steigern. | |||||||||||||
[8] Siehe Meldung im Heise News-Ticker sowie Ernst Corinths Glosse »Medienwächter aufgepasst« in Telepolis (August 2000) |
Provider, die sich nicht dem Verdacht des rechten Symathisantentums aussetzen wollten, mussten »Farbe bekennen« und etwas gegen rechte Sites unternehmen:
Die Denic, für die Namensregistrierung von .de-Domains zuständig, sperrte die Domain »heil-hitler.de«.[8] Soll ein anstößiger, unmoralischer oder anderweitig verwerfliche Domain-Name wirklich ein Grund sein, ihn zu löschen oder, wie gefordert, voneherein zu verweigern? Ist das etwa nicht Zensur? |
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[9] Siehe auch »Standardisierung der Zensur« zum Thema Eindeutigkeit von Inhalten. |
Entscheident ist doch, was am Ende dabei herauskommt: ist die Website strafrechtlich relevant, dann kann der Urheber zur Rechenschaft gezogen werden. Aber vielleicht ist es auch nur eine Satire wie Christoph Schlingensiefs Domain auslaenderraus.at der Aktion »Bitte liebt Österreich!«?
Eine Woche lang wurde in diesem Projekt eine Art Big Brother für Ausländer gespielt: eingepfercht in einem Container und permanent von Web-Kameras überwacht mussten sie ausharren. Jeden Tag wurde ein Bewohner von den Zuschauern herausgewählt und abgeschoben, der oder die letzte sollte einen Einheimischen heiraten und Aufenthalts-Erlaubnis bekommen. Theater-Aktivist Schlingensiefs Veranstaltung im Rahmen der Wiener Festwochen, sicherlich die gelungenste gegen Rechtsextremismus im letzten Jahr, sollte den Ausländerhassern einen Spiegel vorhalten. Detaillierte Berichte gibt es in Berichten bei Spiegel-Online sowie bei Telepolis. Bei der Sperrung entsprechender Domain-Namen hätte Schlingensief vielleicht mit der Domain auslaenderraus-satire.at vorlieb nehmen müssen.[9] |
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Selbstzensur im Bundesinnenministerium |
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Nachdem sich Internet.com im November brüstete, einen Verweis auf die NPD-Homepage auf den Internet-Seiten des Bundesinnenministeriums zum Verbotsantrag der NPD entdeckt zu haben, wurde dieser sofort entfernt. Soll sich der Bürger ein Bild von der Situation nur anhand von offiziellem Material machen dürfen?
Florian Rötzer in Telepolis: »Zivilcourage im Cyberspace« (November 2000) |
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Die Praxis, möglichst keine Quellenangaben zu machen und nur von »Internet« zu sprechen ohne aber die genaue Adresse zu nennen ist sehr fragwürdig. Dies betrifft natürlich auch linke Gruppierungen, so berichtet der Verfassungsschutz des Landes Nordtherin-Westfalen in seinem Jahresbericht 1999 in Kapitel 3.2 über »Militante Linksextremisten u.a. Autonome« im Absatz »Antirassismus« über die Gruppierung kein mensch ist illegal samt Abbildung der Website natürlich ohne Link, denn dann könnte man sich ja selbst ein Bild machen.
Härter traf es den Journalisten Burkhard Schröder, dieser staunte nicht schlecht, als er Ende Oktober von der Staatsanwaltschaft informiert wurde, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren geführt wird:
Quelle: Ermittlungsverfahren gegen Burkhard Schröder auf seiner eigenen Site |
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Schröder, dank mehrerer Bücher über Neonazis ein ausgewiesener und anerkannter Experte für das Thema Rechtsradikalismus, kann kaum vorgeworfen werden, er würde auf seiner Linkliste rechtsradikales Gedankengut verbreiten. Will ihn da jemand mit einer neuen Variante des bösen Worts »Sympathisant« beschimpfen? | |||||||||||||
Burkhard Schröder auf die Frage Warum verlinken Sie Nazi-Seiten? |
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Man sollte im Bewußtsein behalten, dass die Inhalte die im Augenblick unerwünscht sind, sich laufend verändern, je nachdem was gerade in der öffentlichen Diskussion das große Thema ist. In den 70ern waren es die »Sympathisanten«, die von Staat und Öffentlichkeit geächtet waren.
Die freie Rede muss im Netz genau so geschützt werden wie im »Real Life« und darf sich nicht emotionalen Diskussionen und Sommerloch-Themen unterordnen. |
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